Von Zeit und Strom
Der englische Romancier David Mitchell kartografiert Seelen und schreibt Welt-Literatur

Die Romane von David Mitchell, Jahrgang 1969, gleichen einer metaphysischen Achterbahnfahrt durch Zeiten, Genres und Stile, die einem den Atem benimmt. Mitchells ungeheures Talent katapultierte ihn zu Recht sofort unter die wichtigen jüngeren Autoren Grossbritanniens, auch wenn die Erzählhaltungen der acht Protagonisten in seinem Début „Ghostwritten" (das auf Deutsch unter dem Titel „Chaos" erschien) gelegentlich allzu einförmig waren und sein zweiter Roman, „number9dream", sich als etwas zu inkohärent erwies, um vollends zu überzeugen. Nun liegt Mitchells drittes Buch, das 2004 auf der Shortlist des Booker Prize stand, in einer grandiosen Übersetzung vor, und das Urteil fällt diesmal leicht: „Der Wolkenatlas" ist zweifellos einer der bemerkenswertesten und intelligentesten Romane des Jahrzehnts.


Konstruiert in bewährter postmoderner Manier, die jedoch alle überflüssigen Manierismen souverän hinter sich lässt, setzt sich „Der Wolkenatlas" aus sechs Handlungssträngen zusammen, die wie russische Matroschka-Puppen ineinander verschachtelt und auf vielfältige Weise aufeinander bezogen sind. Sie spielen in sechs Zeitebenen und bedienen sich jeweils unterschiedlicher Genres: des Tagebuchs, des Briefs, des Kriminalromans, der reisserischen Autobiografie, des Verhör-Protokolls und der oralen Überlieferung. Mitchell gelingt die heikle Balance, diese literarischen Formen zu imitieren, zu parodieren und sie als historisch typische, ihre Epoche entlarvende Ausdrucksweisen gleichzeitig bitter ernst zu nehmen.


Wahllos scheinen die sechs Hauptpersonen aus dem Strom der Zeit gegriffen: Im 19. Jahrhundert ein amerikanischer Anwalt im Pazifik auf der Rückreise von einem seiner Aufträge; in den 1930er Jahren ein junger englischer Komponist, der vor seinen Gläubigern nach Belgien flieht und dort zum Sekretär des — fiktiven— Komponisten Vyvyan Ayrs avanciert; eine amerikanische Journalistin, die in den siebziger Jahren ein Komplott der Atomindustrie aufdeckt; in der Gegenwart ein Verleger von Schundliteratur, den man versehentlich ins Irrenhaus sperrt; in unbestimmter näherer Zukunft eine geklonte, für ihre Individualität kämpfende koreanische Arbeiterin, die von der Staatsmacht zum Spielball verschiedener politischer Splittergruppen gemacht wird; und in einer postapokalyptischen Welt ein hawaiianischer Ziegenhirte, der Zeuge des Untergangs der letzten Zivilisationsreste wird.


Auf den ersten Blick haben die Protagonisten ausser einem Muttermal in Kometenform (ein Motiv, das bereits in „Chaos" am Rande auftauchte) nichts gemeinsam. Sie selbst betrachten dieses Mal entweder als Hinweis auf Wiedergeburt oder tun derartige Ideen als schlichten Humbug ab. Mitchell hütet sich hier, wie auch sonst, nur den Wink einer Deutung zu geben und lässt den Leser mit der Entscheidung allein, ob er darin einen verborgenen tieferen Sinn erkennen möchte. Trotzdem sind die Personen schicksalhaft miteinander verbunden, denn jeder von ihnen gelangt der Text der jeweils vorausgehenden Erzählung in die Hände — und allmählich enthüllt sich so ein die Zeiten und Räume übergreifendes Panorama von Machtmissbrauch und Manipulation.


Bereits in seinem ersten Roman entwarf Mitchell eine paranoide Welt, in der politischer und persönlicher Wahnsinn untrennbar verquickt sind; und die Struktur des Buches selbst, die sich am berühmten Schmetterlingsflügelschlag der Chaostheorie orientierte, mündete am Schluss in eine völlig überdrehte, comichaft furiose Groteske des Weltuntergangs. „Der Wolkenatlas" nun schreibt „Chaos" in mancherlei Hinsicht fort, ergänzt es und entwickelte neue Motivstränge. Auch hier begegnen Lüge, Unvernunft und Ausbeutung auf Schritt und Tritt. Der Pazifikreisende Mitte des 19. Jahrhunderts beispielsweise erlebt, dass Expansionsdrang und Welteroberungslust mit der Bibel in der Hand und dem Unverständnis für andere Kulturen im Kopf betrieben wird. Er sieht aber auch, wie die Unterdrücker der sogenannten Primitiven wiederum von skrupellosen Händlern erpresst werden, die wie Wölfe im Schafspelz einfallen. Paradoxer und überraschenderweise betrügt ihn letztlich ausgerechnet jener Mensch, der die tiefsten und zynischsten Einsichten in das System von Missionseifer und früher Kolonialisierung zu haben scheint.


Gewissermassen aus entgegengesetzter Perspektive erzählt in der fernen Zukunft ein hawaiianischer Hirte, wie er sich langsam mit einer Forscherin aus der letzten Hochzivilisation anfreundet. Deren vermeintliche technische Überlegenheit stellt sich allerdings nach und nach als gewaltige Illusion heraus: Gegen Naturgewalten hilft auch die ausgeklügeltste Technologie nicht, zumal wenn diese es war, die den Untergang beschleunigte. Wie die Welt ungebremst auf den selbstfabrizierten Abgrund zurast, beschrieb bereits die vorausgehende Erzählung in bestem Philip K. Dick-Ton. Was dort die Wirtschaftssupermacht Korea antreibt, ist — zum grossen Erschrecken — bereits überall in unserer Gegenwart angelegt und wirkt gar nicht sonderlich imaginiert.


In den 1970er Jahren ist es noch möglich, sich allein — wie die unbekannte amerikanische Journalistin — und dennoch erfolgreich gegen die Front von Wirtschaft, Korruption und politischer Intrige zu stellen. (An dieser Stelle schlägt die Intertextualität nebenher Kapriolen: Die Journalistin absolviert, wie der Schundverleger, der ihre Enthüllungen liest, einen Kurzauftritt in „Chaos".) In der Gegenwart aber scheitert das Individuum an den Mächtigen: Der Schundverleger ist in der Irrenanstalt vollkommen einem perfiden System von Überwachung, Kontrolle und Medikationen ausgeliefert. Doch sind die Irren überhaupt von den Normalen zu unterscheiden? Der junge, genialisch überdrehte und moralisch skrupellose Komponist, den wir durch seine Briefe kennenlernen, versteht es geschickt, die Menschen in seiner Umgebung für seine egoistischen Bedürfnisse zu manipulieren. Als er selbst das Opfer einer Manipulation wird, als ihn seine eigenen, diesmal echten Gefühle betrügen, bricht seine Welt plötzlich entzwei.


Warum aber, wird man fragen, trägt der Roman den rätselhaften Titel „Der Wolkenatlas"? Gegen Ende des Buchs, wenn sich auf höchst trickreiche Weise die geöffneten Erzählstränge wieder schliessen, werden aus dem Mund der Protagonisten einander widersprechende Deutungen geboten. Soll man ihnen Glauben schenken — oder manipuliert der Autor David Mitchell damit womöglich seine Leser? In einem derart mit Anspielungen, Belesenheiten, schnurrigen Einfällen und bösartigen Seitenhieben gespickten Roman wären solche Sprünge in die Metaebene keinesfalls verwunderlich.

Jürgen Brôcan

David Mitchell: Der Wolkenatlas. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 672 S., Fr. 43.70